Soweit bekannt, gab zuerst ein Lemgoer Bürger, David Topp, seinem Interesse für „die neue Welt" in sehr bezeichnender Weise Ausdruck. In einem Brief vom 5. Januar 1711 fragte er in Virginia an:
was hier für „getreide wächset und ob es wohl hoch im preise sei", wie, „da so viel Familien jährlich da[hin-]zu kommen", sich diese „alle ernähren, ob sie alle da Häuser finden oder bauen, ob sie die Heyden oder Wilden mit der zeit vertreiben oder bekehren oder was es für arth Menschen da gebe und wie sie leben ?" (Blätter für Lippische Heimatkunde, Jg. l (1900).
Der des Lesens und Schreibens kundige Mann, Inhaber einer Gaststätte und Herberge, hatte die Anregung für seine Initiative vermutlich von einem durchreisenden Kaufmann erhalten; gegebenenfalls könnte er durch das Inserat einer Zeitschrift zu seiner Anfrage veranlasst worden sein. Diese Gelegenheiten waren damals in den kleinen Städten sowie in den Flecken und Dörfern des Landes nicht im gleichen Maße gegeben. Immerhin bekundeten bereits Anfang 1753 Bewohner der Gemeinde Falkenhagen dem Pfarrer ihren Willen, nach Süd-Carolina auszuwandern.
Der zuständiger Geistliche nahm das seinerzeit zum Anlass, den Kanzler der Regierung in Detmold zu bitten, jene Absicht durch entsprechende Verfügung zu verhindern; er fürchtete:
,,römisch Catholische" möchten sich „mächtig bemühen, um vakant werdende Höfe und Häuser [evangelischer Inhaber] anzuspringen". (Staatsarchiv Detmold, L 73 Nr. 84, 14. März 1753.)
Auch in den übrigen Kirchspielen Lippes mögen damals ähnliche, wahrscheinlich von Agenten verursachte Beunruhigungen stattgefunden haben. Von einem Durchbruch der Vorhaben bis zu dessen Realisierung hören wir indessen noch nichts, auch nicht aus der sich in einer besonderen Situation befindlichen Gemeinde Falkenhagen. Ohnehin stand unerlaubtes Verlassen des Landes unter Strafe.
Die unsoziale Aufteilung der bis dahin von allen gemeinsam genutzten Hudegebiete, die Umstellung auf eine neue Wirtschaftsweise (Auflösung der Dreifelderwirtschaft), und nicht zuletzt drückende Missernten setzten, mit den Jahren 1846 beginnend, die große Auswanderungswelle in Lippe in Bewegung.
Strenge Winter, in denen, wie berichtet wird, 21 Wochen scharfer Frost herrschte, und noch die Osterfeuer auf Eis brannten, hatten nach dem Bericht eines lippischen Amtsmannes zur Folge, „dass mehrere Jahre nacheinander die Ernten sehr unergiebig waren, das hauptsächlichste Nahrungsmittel, die Kartoffeln, total missriethen, alle landwirtschaftlichen Producte daher im Preise stiegen und von den niederen Volksklassen auf den gepachteten Ländereien nur wenig geerndtet wurde.”
Die Agrar-Verfassung
Nach dem geltenden Kolonatsrecht war der Anerbe — in der Regel der älteste Sohn — Alleinerbe des Hofgutes. Die Geschwister erbten nicht mit, damit eine Aufteilung des Kolonates vermieden wurde. Ungeteilter Mitbesitz war nicht gestattet. So notwendig das Festhalten an diesen Gesetzen bei den in Lippe vorhandenen Besitzgrößen auch war, so bitter war zugleich die Lage der nachgeborenen Söhne. Sie hatten zwar das Recht auf dem Hofe zu bleiben, um dort gegen Beteiligung an den notwendigen Arbeiten Unterhalt zu finden. In der Regel aber unterschied sich ihre Stellung nicht von der eines Knechtes.
Die merkantilste Bevölkerungspolitik im 17. und 18. Jahrhundert hatte zum Ziel, den Reichtum des Landes durch Vermehrung der Bevölkerung zu steigern. Die Tendenz der starken Bevölkerungsvermehrung wirkte aber schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts so stark, dass die Produktion der Nahrungsmittel nicht mehr Schritt halten konnte. Bevölkerungszahl und Fassungsvermögen des Lebensraumes gerieten aus dem Gleichgewicht.
Der Chronist jener Zeit schreibt über den Ort Brakelsiek: „Der Ort war überfüllt. Die Heimatscholle vermochte die zunehmende Bevölkerung nicht mehr zu ernähren. Es gab keinen Platz, sich weiter auszudehnen. Nach Süden hin grenzte die Gemeinde an das preußische Gebiet, nach Norden an den fürstlichen Wald, vom Osten und Westen wurde sie von zwei Domänen eingeengt. In manchen, heute als Leibzucht leerstehenden Häusern, wohnten damals drei Familien.
Für Lippe sind folgende Zahlen aufschlussreich:
1788: 61 437 Einwohner
1812: 80 630 Einwohner
1828: 92 752 Einwohner
1835: 100 134 Einwohner
Dieser sich in den Zahlen widerspiegelnde Bevölkerungsdruck wirkt sich auf dem Lande ungleich stärker als in der Stadt aus. Die Zahl der Kolonate betrug 7630 im Jahre 1850.
77 % aller Höfe entfielen damals auf jene „kleinen Leute”, deren Besitzung allein nicht lebensfähig war. Sie waren gezwungen, um der größten Not zu entgehen, durch Weben, Spinnen und „Ziegelgehen”, eine weitere Erwerbsquelle zu suchen. Die Form der Zwerg- und Parzellenbewirtschaftung war für die lippische Landwirtschaft charakteristisch.
Spinnen und Weben, im Haupt- und im Nebenberuf, waren bis in das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die wichtigsten Erwerbsquellen des Landes neben der Landwirtschaft. Dieses blühende Gewerbe erfuhr zu Beginn des Jahrhunderts einige herbe Schläge, von denen es sich nie wieder ganz erholen sollte. Die durch die Kontinentalsperre hervorgerufenen Schwierigkeiten konnte die Leinenweberei noch überwinden, obwohl auch da schon wertvolle Absatzgebiete verlorengingen.
Nach dem Ende der Sperre blühte das Gewerbe kurz noch einmal auf. Noch 1836 zählte man in Lippe über 4000 Webstühle. 1860 waren es kaum noch 2000. Die Baumwollfabrikation, vor allem aber der mechanische Webstuhl, lieferten billigere Ware und nahmen tausenden von Lippern diese so notwendige, zusätzliche Erwerbsquelle.
In einem ausführlichen Regierungsbericht, der im Jahre 1848 die Gründe der Auswanderung darlegt, heißt es zur Lage der Spinner und Weber:
„Die neben der Landwirtschaft in ausgedehntestem Umfange getriebene Industriearbeit waren Spinnerei, Weberei und Ziegelarbeit. Die ersteren waren jedoch meist nur ein Nebengewerbe, welches Gelegenheit zu Verdienst bot, wenn eine andere, besser lohnende Beschäftigung nicht aufzutreiben war.
Die Handwerker, die Tagelöhner und die Ziegelarbeiter nach Rückkehr in ihre Heimat vom Auslande, aber auch die Landbauern, waren mit ihren Hausbewohnern in allen Mußestunden hinter dem Spinnrad alle fleißig beschäftigt und schon früh wurden die Kinder an diese Beschäftigung gewöhnt. Durch die Einführung der Spinnmaschine ist eine Concurrenz eingetreten, welche den beim Spinnen niemals hohen Verdienst bis auf nichts herabgedrückt hat.”
Bei dieser Lage, eines für die Wirtschaft des Landes so bedeutungsvollen Gewerbes erkannte man nicht, wie der einzig gangbare Weg aus der Schwierigkeit einzuschlagen sei. Die neue Maschine war ein verhasster Feind, sie als Helfer zu nutzen verstand man nicht, obwohl ein Blick über die Grenzen des Landes sehr lehrreich gewesen wäre.